Die „Stinewase von Hellental“ │ 1850-1923
Als stets geschätzte „Hellentaler Stinewase“ kann Christine Amalie als multi-tasking-fähige „Gemeindeschwester“ charakterisiert werden. Modern formuliert, wirkte Christine Amalie in der dörflichen ambulanten Palliativversorgung – quasi als frühe „Palliativschwester“.
Klaus A.E. Weber
Historisches Museum Hellental
Heimat- und Geschichtsverein für
Heinade-Hellental-Merxhausen e.V.
Christine Amalie – Die Hellentaler Stinewase – um 1920
© Historisches Museum Hellental
Dorfmedizinische Heilkundige │ Palliativpflegerin │ Ratgeberin │ Seelsorgerin
Dem kirchlich-religiös geprägten Mittelalter entspringend ist die Heilkunde jahrhundertelang zumeist Frauensache – wie in der heutigen ambulanten und stationären Palliativversorgung. Die Weitergabe des traditionellen heilkundlichen Wissens weiser Frauen erfolgte durch mündliche Überlieferung von Frau zu Frau – als Kräuterfrauen, Pflegerinnen, Ratgeberinnen, Heilkundige und auch als Hebammen. In diesen historischen Kontext kann Christine Amalie als namensgebende Protagonistin als typische Vertreterin einer seit dem Mittelalter bewegten weiblichen Heilkunst eingeordnet werden.
In alter Zeit ist das volksmedizinische Gesundheitswissen in den entlegenen Walddörfern des rauen Sollings eng verknüpft mit kirchlich-religiös geprägten, auch abergläubischen oder metaphysischen Praktiken und Ritualen. Insbesondere in dem „fast tirolerisch anmutenden Holzhauerdorf“ Hellental [1] vollzieht sich die gesundheitliche Versorgung sehr lange in einem Umfeld von tiefer Religiosität, unerschütterlichem Aberglauben und Mystizismus.
Der Verhütung gesundheitlichen Unheils durch volksmedizinisches Handeln wird mehr zugetraut als einer ärztlichen Beratung und Behandlung. Das Vertrauen der armen Leute in den abgelegenen Sollingdörfern in die tradierte Volksmedizin ist jahrhundertelang ausgeprägt, zumal sie auch vor Ort rasch und meist kostengünstig verfügbar ist.
Vor dem Hintergrund von großer Armut, Trost- und Hoffnungslosigkeit, Not und Bitterkeit wirkt Christine Amalie in Hellental bei armutsassoziierten Schicksalen – als Heilkundige, Palliativpflegerin, Ratgeberin und Seelsorgerin. Die große, schlanke „Stinewase” war in dem abgelegenen Sollingdorf des 19. und 20. Jahrhunderts als gute Samariterin, hilfsbereite Ratgeberin und Heilerin bei der Krankenversorgung von Mensch und Tier gleichermaßen beliebt.
Das ungewöhnliche Lebensbild der Holzhauerfrau
Am 22. März 1850 wird Johanne Christine Amalie als uneheliches Kind in der alt eingesessenen evangelischen Schorborner Familie Grupe geboren.
Im Alter von 14 Jahren tritt Christine Amalie zunächst eine siebenjährige Anstellung als Kleinmagd auf einem Bauernhof an der Weser bei Holzminden an (1864-1871). Um ihrer jüngeren Schwester Platz zu machen, geht Christine Amalie als 21-Jährige in einen städtischen Bürgerhaushalt in Holzminden in Stellung.
Am 02. November 1873 heiratet die 23-jährige Christine Amalie in Deensen den 25-jährigen Hellentaler Wegarbeiter Friedrich Wilhelm Christian Schütte (1848-1905), der dritte Sohn des Häuslings und Leinenwebers Christian Friedrich Schütte (1817-1877) und dessen Ehefrau Justine Kuhlemann (1820-1867). Wilhelm Schütte hatte den Webstuhl gegen die Axt eingetauscht.
So kommt Christine Amalie jungvermählt von der Kreisstadt Holzminden wieder in den rauen Solling zurück. Aus ihrer Ehe gehen zwischen 1871 und 1891 sieben Kinder hervor – drei Mädchen und vier Knaben. Der im November 1891 in Hellental letztgeborene Ernst August Ludwig stirbt im Februar 1976 in Stadtoldendorf.
Die seinerzeit über Hellental weit hinaus bekannte Christine Amalie gilt ob ihrer großen Seele und ihrem uneigennützigen, naturmystischen Wirken als eine herausragende Persönlichkeit des abgelegenen Arbeiterdorfes. Für die damaligen dörflichen Sozialverhältnisse dürfte Christine Amalie eine gebildete Frau gewesen sein, die über besondere volksmedizinische Vorstellungen und heilkundliche Kenntnisse verfügte. Diese hat sie vornehmlich in Schorborn von ihrer Mutter Magdalene Justine Amalie Grupe mündlich erworben.
Auch die mehrjährigen Dienstzeiten jenseits des Sollings beim kleinstädtischen Bürgertum in Holzminden dürften Christine Amalie in der ländlichen Gesundheitspflege geschult haben.
Die tiefe christliche Einstellung und die stete Hilfsbereitschaft von Christine Amalie, insbesondere aber ihr soziales und volksmedizinisches Engagement in der Dorfgemeinschaft gelten als beispielgebend für Hellental.
Am 01. Januar 1923 verstirbt Christine Amalie in Hellental unerwartet im Alter von 72 Jahren.
Die Story der weiblichen Heilkunst von Christine Amalie
In Hellental vollzog sich die gesundheitliche Versorgung sehr lange in einem Umfeld von tiefer Religiosität, unerschütterlichem Aberglauben und Mystizismus, persönlichem Schicksal und glücklicher Fügung.
Im Vergleich zu benachbarten Kleinstädten an den Sollingrändern ist die landärztliche Grundversorgung in den von Armut gekennzeichneten Walddörfern des Sollings weitaus prekärer. Das betrifft insbesondere Schwangere, Mütter und Kinder. Zugleich lässt die wirtschaftliche Not stets die bange Frage aufkommen, ob die zu erwartende ärztliche Honorarforderung überhaupt beglichen werden kann.
Weit entfernt von der landärztlichen Grundversorgung wendet man sich im abgelegenen Hellental in allen Krankheitsfällen zunächst immer an die heilkundige und hilfsbereite Christine Amalie. Eingekleidet im ortsgewebten Beiderwandsrock mit gestreifter Schürze ist daher Christine Amalie oft unterwegs bei der Krankenversorgung von Mensch und Tier. Zugleich ist Christine Amalie auch als „Leichenfrau“ tätig, indem sie die Waschung frisch Verstorbener vor deren Einsargung durchführt. Neben der Hebamme wird Christine Amalie auch bei Geburten hinzugezogen, die zu oft mit einem harten Überlebenskampf für Mutter und Kind einhergehen. Zudem besucht Christine Amalie tröstend oder pflegend jene Kranken, die bettlägerig sind.
Wie die mittelalterlichen Heilerinnen verfügt Christine Amalie als „volksmedizinische Heilerin“ gegen viele Krankheiten über helfende Naturmittel und rituelle magische Heilmethoden. Sie kennt sich mit der Zubereitung und Anwendung von Heilkräutern aus, die sie in dem reichhaltigen Pflanzenbestand der „grünen Wald- und Wiesenapotheke“ des Sollings findet.
Darüber hinaus beherrscht sie vor allem auch das Handauflegen und die Anwendung von Besprechungsformeln als rituelle magische Heilmethoden. Mit ihren Besprechungsformeln stützt sich Christine Amalie auf die Magie der Sprache, mit der sie Heilungsbestrebungen aktivieren will – Sprache kann Trost vermitteln.
Von den von Christine Amalie bei ihrer Behandlung von Kranken zu Grunde gelegten Betrachtungsweisen ist anzunehmen, dass diese eine nicht zu unterschätzende psychische Zuwendung im dörflichen Leben spielten, wo trostlose Lebens- und Arbeitsbedingungen vorherrschten.
Immer dann, wenn es ums Sterben geht und Angehörige ratlos sind, wird Christine Amalie gerufen. Sie übernimmt dann die Pflege, gibt Trost und Hoffnung, betet mit den Kranken und erleichtert mit ihrer sanften Hand das Sterben. So sitzt Christine Amalie oft am Bett von Gebärenden, Kranken und Sterbenden pflegt und heilt mit Intuition, ruhiger Anteilnahme und intensiver Zuwendung – wie auch in Kenntnis und Anwendung von Kräutern und Heilpflanzen. Christine Amalie wirkt also nahe an den existenziellen Lebensbereichen von Geburt und Tod.
Im Alter von allen liebevoll „Stinewase“ [2] genannt, wird die merkwürdige Holzhauerfrau weit über das Arbeiterdorf Hellental hinaus von Jung und Alt gleichermaßen als gutmütige und weise Frau tief verehrt.
Das volksmedizinische Handeln der „Stinewase“ lag jenseits einer aufgeklärten Medizin. Es war vielmehr religiös, mithin metaphysisch bestimmt. Die tiefe christliche Einstellung und stete Hilfsbereitschaft, insbesondere aber ihr soziales und volksmedizinisches Engagement in der Dorfgemeinschaft waren beispielgebend für die Hellentaler Dorfbewohner*innen.
Wickel mit Rüböl in der Dorfmedizin │ um 1900
Wie Heinrich Sohnrey [1] berichtet, habe man sich – da „der Arzt von Hellenthal weit“ war – auch in allen sonstigen Krankheitsfällen zunächst immer an die heilkundige „Stinewase“ gewandt.
Da eine antibiotische Behandlung in jener Zeit noch nicht verfügbar ist, behandelt Christine Amalie Wöchnerinnen „mit schlimmen Brüsten“ – akute bakterielle Brustdrüsenentzündung (Mastitis puerperalis) als häufig auftretendes Probleme in der Stillzeit – nicht nur durch Besprechen, sondern auch durch Umschläge (Wickel), indem sie aus Leinsamen, Milch und Mehl einen steifen Brei bereitet.
War die oft mit einem Abszess-Durchbruch verlaufende Brustdrüsenentzündung vorüber, legte die Stinewase den Frauen einen Wickel mit Rüböl (Rapsöl) „zum Zuwachsen” an. Überhaupt sei Rüböl bei Entzündungen das beste Heilmittel der „Stinewase“ Christine Amalie gewesen.
„Besprechen” und „Verbeten“ – zur Behandlung von Krankheiten
Während der Unternehmer und Gründer des Deutschen Hygienemuseums in Dresden, Karl August Lingner (1861-1916), das Mundwasser „Odol“ in der Seitenhalsflasche 1892 einführt, zählen in den von wirtschaftlicher Not betroffenen Sollingdörfern von Generation zu Generation weitergegebene Rezepturen für Tees, Tinkturen, Umschläge und Salben aus dem Pflanzenbestand der reichhaltigen „Waldapotheke“ des Sollings zu den wichtigsten Heilmitteln.
Oft wendet Christine Amalie auch gewisse „Beschwörungsformeln” an, was landläufig „besprechen“ genannt wird. Sie spricht als heilendes Medium ihre Formeln offen und laut aus. So soll Christine Amalie beispielsweise bei der zur damaligen Zeit weit verbreiteten Kinderkrankheit „Scheuerschen“ dreimal gesagt haben:
„Was ich hier finde – der liebe Gott gebe, dass es schwinde“.
Dabei streicheln ihre Hände dreimal das erkrankte Kind.
Im 18./19. Jahrhundert gilt „Scheuerchen“ als die häufigste Todesursache bei Kindern, vornehmlich in den ersten Lebenswochen und Lebensmonaten.
Hierzu ist anzumerken, dass bei Todesfällen in Heinade, Merxhausen und Hellental häufig die Todesursache „Scheuerchen“ in den Kirchenbüchern angegeben wurde. Die Beschreibung „Scheuerchen” ist als Sammelbegriff für verschiedenartige Kinderkrankheiten, häufig mit Todesfolge, zu interpretieren – wie Krämpfe, Epilepsie oder auch kurzfristige Erkrankung, schwerere, fieberhafte Infektionserkrankung der Atemwege oder des Darmes mit Fieberschüben.
Das noch vor wenigen Jahren in Hellental unterschwellig und im Geheimen anzutreffende „Besprechen” zählte früher zum offenen Standardrepertoire der Behandlung von Krankheiten beim Menschen wie beim Tier. Ärzte und Tierärzte praktizierten nur in weit entfernten Kleinstädten (beispielsweise in Uslar, Stadtoldendorf oder in Dassel) und waren daher bei Krankheiten und Unfällen nur schwer und spät erreichbar.
Weitere Informationen auf der Website des Heimat- und Geschichtsvereins für Heinade-Hellental-Merxhausen e.V. unter
[1] Heinrich Sohnrey: Tchiff tchaff, toho! Gestalten, Sitten und Bräuche, Geschichten und Sagen aus dem Sollinger Walde. Berlin 1929.
[2] „Stine“ war auch in Hellental die landläufige Abkürzung für den Namen Christine; „Wase“ bedeutete etwa „Tante“.
An dieser Stelle nochmal ein ganz besonderer Dank an
Herrn Dr. Klaus A.E. Weber,
Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins für Heinade-Hellental-Merxhausen e.V. (HGV-HHM),
der uns bei der Namensfindung für unser Hospiz mit seinen Kenntnissen unterstützt hat.